Marianengraben
von Jasmin Schreiber
Eichborn Verlag, Köln 2020
253 Seiten, 20 Euro
Die Ich-Erzählerin Paula erlebt, wie sie der Tod ihres kleinen Bruders Tim, zu dem sie ein inniges Verhältnis hat, aus der Bahn wirft. Tim ist
während eines Urlaubs mit seinen Eltern im Meer ertrunken. Paula hatte sich trotz Tims wiederholter Bitte, doch mitzufahren, nicht zu diesem Familienurlaub entschließen können. Nun plagen sie
Schuldgefühle. Hätte sie ihren Bruder retten können, sie hätte doch bestimmt gespürt, dass Tims Kräfte nicht ausgereicht hatten, das Ufer zu erreichen. Wenn sie doch nur mitgefahren wäre
...
Paula gerät in eine tiefe Depression. So tief wie der Marianengraben ist ihre Trauer und Verzweiflung. Gerade über die Tiefsee und die darin lebenden Fische hat Paula sich mit Tim ausgetauscht, die Tiefsee, ihr gemeinsames Interesse, ihr gemeinsames Forschen, die Verortung ihrer tiefen geschwisterlichen Zuneigung. Paula zermürbt sich mit Fragen zu Tims letzten Gedanken. „Hat er an mich gedacht? War er verzweifelt, dass ich nicht dort war, um ihm zu helfen? Oder hat er an Fische gedacht, an seine geliebten Kraken?“ Ihre Schuldgefühle wachsen.
Schließlich kreuzt ein schrulliger, sehr gebrechlicher alter Mann mit einem neurotischen Hund auf. Diese Begegnung führt zu einer Reise in einem Campingbus. Die Fahrt führt in die Berge. Auch Helmut, so heißt der Mann, hat viele Verlusterfahrungen. Nun entsteht ein irrwitziger Trip, ein Roadtrip. Helmut schafft es, Paulas Lebenswillen wieder zu erwecken. Der alte Mann, der gleichzeitig fürsorglich und völlig unsentimental sein kann, selbst todkrank ist, hat noch einiges zu erledigen, was er schließlich den Toten, die ihm am Herzen liegen, versprochen hat. So sind sie denn unterwegs, der kranke alte Mann, die tieftraurige Paula, ein neurotischer Hund und ein aufgelesenes Huhn.
Die Ich-Erzählerin meint dazu:
Wenn Trauer eine Sprache wäre, hätte ich jetzt zum ersten Mal jemanden getroffen, der sie genauso flüssig sprach wie ich, nur mit einem anderen Dialekt. (S. 96)
Marianengraben ist ein Buch, das von Sterben und Trauern handelt, zweifellos. Nimmt man es in die Hand und blättert ein wenig darin, denkt man vielleicht, dass man reichlich weinen wird. Das ist so, aber überraschenderweise wird man ebenso oft herzlich lachen und sich an den heiteren Episoden erfreuen. Dabei verliert das Buch nicht an Tiefe, es macht klar, das Leben und Sterben genauso zusammengehören wie Lachen und Weinen. Oder wie die Ich-Erzählerin Paula ein wenig überrascht feststellt:
Ich hatte das Gefühl, endlich richtig um dich trauern zu können und nicht um irgendeine Schuld, die zwischen uns stand. Ich fühlte mich dir so nah wie schon lange nicht mehr, die letzten zwei Jahre war mein Blick vernebelt gewesen und jetzt sah ich klar, fühlte mich klar. Ich hatte meinen Bruder verloren, dich verloren und du fehltest mir jede Sekunde. Endlich konnte ich das richtig spüren, es tat unfassbar weh, aber ich wusste, dass es ein bewältigbarer Schmerz ist. Weil er gleichzeitig in meinem Kopf – auf eine zugegebenermaßen etwas verrückte Weise – ein guter Schmerz war. (S.224)
Megakrass hätte Tim dazu gesagt.
Jasmin Schreiber, geboren 1988, ist studierte Biologin und arbeitet als Kommunikationsexpertin und Autorin. Sie ist zudem als Sterbebegleiterin tätig, fotografiert vorgeburtlich verstorbene Kinder, also Sternenkinder-Fotografin. Bekannt wurde sie durch die Auszeichnung als Bloggerin des Jahres, nachdem sie 2018 den Digital Female Leader Award gewann.
Christa Johanna Gundt