Ansprache zum Volkstrauertag am 19. November 2023
an der Kapelle der Friedfertigkeit
Sehr geehrte Damen und Herren!
„Der Volkstrauertag ist in Deutschland ein staatlicher Feiertag und gehört zu den „Stillen Tagen“. Es ist ein Tag des Innehaltens, der Einkehr und des Mitfühlens. Dieser Tag erinnert an die Kriegstoten und Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen.“
So heißt es in der Einladung zu dieser Gedenkstunde.
Ja, das Volk trauert, die Völker der Erde trauern.
Der blaue Planet trägt Trauer:
Wir trauern um die Opfer kriegerischer, gewaltvoller Auseinandersetzungen, vergangener und auch gegenwärtiger Gräueltaten auf der ganzen Welt, aktuell richten wir unseren Blick in tiefer Sorge in die Ukraine und nach Nahost.
Wir trauern um die zivilen Opfer von Gewalt und Krieg.
Wir trauern um die gefallenen Soldaten, um deren nicht gelebte Zukunft.
Wir trauern um die Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten und sie auch heute noch verlassen müssen, um die Menschen, die auf der Flucht umgekommen sind in den Trecks am Ende des 2. Weltkrieges oder auch um jene, die gegenwärtig im Mittelmeer ertrinken.
Wir trauern um die Kinder in aller Welt, die erfrieren, verhungern, verdursten, verwaisen, deren Leben vorbei ist, kaum, dass es begonnen hat.
Wir trauern um die Menschen, die bei Aktionen von Zivilcourage und Widerstand getötet wurden.
Wir trauern um die Menschen, die wegen ihrer Zugehörigkeit zu anderen Rassen, zu nicht geduldeten Minderheiten und der willkürlichen Festlegung zwischen lebenswert und lebensunwert um ihr Leben gebracht wurden.
Wir beklagen den zunehmenden Antisemitismus – auch in unserem Land.
Wir trauern in dieser Gedenkstunde mit den Trauernden.
Soviel Trauer!
Als Trauerbegleiterin der Hospizgruppe Billerbeck weiß ich, dass Trauer Gemeinschaft, dass Trauer das DU braucht.
Das DU im Gespräch,
das DU im Nennen der Namen unserer Toten,
das DU im Erinnern.
Das ist tröstend und schmerzhaft zugleich. Zumal wir oft daran erinnert werden, dass den Toten alles andere als ein Sterben in Würde gewährt wurde. Die Unantastbarkeit der menschlichen Würde wird und wurde mit Füßen getreten.
In gemeinschaftlichem Erinnern und in ehrendem Gedenken können wir den Toten ihre menschliche Würde zurückgeben.
Im Erinnern, im Aussprechen der Geschehnisse, auch der schrecklichen, holen wir die Toten zurück in unser Fühlen.
Die, um die wir heute am Volkstrauertag trauern, werden nicht totgeschwiegen.
Wir sind an einem solchen Gedenktag aufgerufen, jenseits der persönlichen Trauer eine Kultur des gesellschaftlichen Trauerns als eine Erinnerungskultur einer bewussten Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu entwickeln.
Der spanische Philosoph George Santayana warnt: „Wer sich seiner Vergangenheit nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ Oder wie Helmut Kohl es in einer Rede im Deutschen Bundestag ausgedrückt hat:
„Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.“
Erinnern und Gedenken sind nicht identisch. Für das Entwickeln eines politischen Bewusstseins ist es wichtig, über historische Ereignisse immer wieder klar, sachkundig und aufrichtig zu informieren, gerade in einer Zeit der Flut von Informationen bis hin zu den Fake News.
Das ist ein wichtiger Schritt zum Empfinden echten Mitgefühls für die Opfer von Gewalt. Um dieses Fühlen geht es an Tagen und an Orten wie diesen hier heute am Volkstrauertag in Billerbeck. Wir erleben die Kraft der Rituale. Indem sie Kopf und Herz gleichermaßen anrühren, nehmen sie uns in die Verantwortung. Wir verharren nicht in der passiven resignativen Trauer, sondern begreifen sie als motivierende Kraft zum eigenen Tun.
Das ist besonders wichtig für Kinder und junge Menschen. Wissenschaftler mahnen seit langem, wie nötig die junge Generation zuversichtliche, kraftvolle Vorbilder braucht, damit sie nicht in Traurigkeit und Resignation verfällt.
Wir fragen uns, geht das denn, aus Trauer Kraft und mutiges Handeln zu entwickeln?
Die Kinder selbst geben Antwort. In den Kindertrauergruppen unserer Hospizgruppe dürfen wir immer wieder erleben, wie heilsam es für sie ist, der Trauer Raum, Worte und Hinsehen zu geben. Dann kommen die Kinder in Bewegung, raus aus dem Gefühl der Ohnmacht.
Am Aktionstag für Trauerkultur an Allerheiligen haben auf dem Friedhof in Billerbeck an die hundert Kinder Holzstelen bemalt und mit guten Wünschen für den betrauerten Toten auf das Grab gelegt. Man konnte beispielsweise lesen: Tschüss Opa oder Grüße für die beste Mama der Welt neben Bildern von Herzen, Sternen und Regenbögen und anderen für die Kinder ausdrucksstarken Symbolen. Hier wird eine kreative Beziehung der Kinder zu den Toten sichtbar. Eindruck bekommt Ausdruck.
Aber auch auf den Soldatengräbern kann man einige dieser bunt bemalten mit Friedenssymbolen ausgeschmückten Stelen sehen. Mit ihnen verbinden sich individuelles und gesellschaftliches Trauern. Ein starkes Bild für einen Volkstrauertag.
Die Toten zu betrauern, sich an sie zu erinnern, etwas zu tun, das lehren uns die Kinder.
Uns Erwachsenen jedoch bleibt eine unermesslich wichtige Aufgabe, die aus dem Gedenken heute erwächst: Unser unermüdlicher Kampf für den Frieden. Wir dürfen nicht aufhören, uns über die Kriege und das Unrecht zu empören, keine Gewohnheit mit schrecklichen Nachrichten bekommen. Dem Friedensgedanken Raum und Wort zu geben, ihn in unser persönliches Leben als auch in gesellschaftliches und politisches Handeln zu integrieren, darum geht es.
Denn „unser Leben steht im Zeichen der
Hoffnung und Versöhnung unter den
Menschen und Völkern,
und unsere Verantwortung gilt dem
Frieden unter den Menschen zu Hause
Und auf der ganzen Welt.“ (Frank-Walter Steinmeier 2022)
Dann und nur dann gewinnt unser blauer Planet seine Leuchtkraft zurück.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Christa
Gundt